Schweiz profitiert vom Bilateralismus
Die Schweiz verzeichnet gegenüber der EU bei «verarbeiteten Landwirtschaftsprodukten» einen Handelsbilanzüberschuss – dank innovativen Produkten, freiem Marktzugang und Hilfestellung bei der Ausfuhr.
Einem Grossteil der Schweizer Nahrungsmittelindustrie geht es blendend. Die Qualität der Schweizer Schokolade, Biscuits, Bonbons und Kaffeekapseln überzeugt offenbar immer mehr Käuferschichten in Europa und Übersee. Laut Co-Geschäftsführer der Föderation der Nahrungsmittelindustrien (FIAL), Franz U. Schmid, war auch 2008 ein hervorragendes Jahr und ein Trendbruch ist noch nicht in Sicht: «Die Nahrungsmittelindustrie boomt – wie noch nie.» Am «teuren» Standort Schweiz ist die Foodindustrie in der Lage, Kleinserien wertschöpfungsintensiver Genussprodukte wirtschaftlich herzustellen.
Doch dass die exportorientierte Nahrungsmittelindustrie auf der Erfolgsschiene fährt, hat noch einen weiteren Grund. Das sogenannte Protokoll Nr. 2 zum Freihandelsabkommen zwischen der Schweiz und der damaligen EWG von 1972 regelt seit Feb?ruar 2005 den Warenverkehr «landwirtschaftlicher Verarbeitungsprodukte» neu. Darunter sind so unterschiedliche Lebensmittel wie Teigwaren, Backwaren, Babyfood oder Schokolade (aber nicht Käse und Wurstwaren) zu verstehen. Die Rohstoffpreisdifferenzen bei der Herstellung dieser Produkte werden im Verkehr zwischen der Europäischen Union (EU) und der Schweiz aufgrund von periodisch festgelegten Referenzpreisen direkt ausgeglichen – mittels Zöllen und Ausfuhrbeiträgen auf verwendete Agrarrohstoffe (sog. Netto-Preisausgleich). Im Regelfall geniessen Schweizer Exporteure zollfreien Zugang in die EU. Zudem sieht es für gewisse Produkte wie beispielsweise Röstkaffee gegenseitigen Freihandel vor.
Schweizer Fine Food profitiert
Eine Analyse des Staatssekretariats für Wirtschaft (Seco) zeigt auf, dass die Handelsflüsse verarbeiteter Lebensmittel zwischen der EU und der Schweiz von 2005 bis 2007 um rund
41 Prozent zugelegt haben. Die Exportumsätze von Schweizer Produkten, die von oben erwähnten Preisausgleichsmassnahmen profitieren, legten in dieser Zeitspanne um 57 Prozent zu. Aber auch vom Abkommen abgedeckte Freihandelsprodukte legten gar um 82 Prozent zu. Die Schweiz, früher defizitär bei «verarbeiteten Landwirtschaftsprodukten», weist für das Jahr 2007 zum Handelspartner EU einen stattlichen Handels?????bilanzüberschuss von über 500 Mio. Franken aus. «Das Abkommen über verarbeitete Landwirtschaftsprodukte hat die schweizerische Nahrungsmittelindustrie gestärkt und ist ein wichtiges Element ihrer Expansionsstrategie», schreiben Jacques Chavaz, stellvertretender Direktor, und Stefan Läubli, Handelsexperte des Bundesamtes für Landwirtschaft (BLW), in der Novemberausgabe der Zeitschrift «Volkswirtschaft» des Staatssekretariats für Wirtschaft.
Auch die EU kann Zölle erheben
Das System des Netto-Preisausgleichs für Agrarrohstoffe, wie er seit 2005 funktioniert, hat aber auch seine Tücken. Im Sommer letzten Jahres trat nämlich der unerwartete Fall auf, dass die EU auf Importe aus der Schweiz für den Zeitraum Februar bis Ende Juli 2008 Zölle erhob. Dies aufgrund der Tatsache, dass im Herbst 2007 die Preise für Magermilch- und Vollmilchpulver auf dem Weltmarkt und in der EU ausnahmsweise höher notierten als in der Schweiz.
Die Situation führte zu administrativen Schwierigkeiten, da die EU die Höhe der Zölle auf Milchpulver erst Anfang Juli publizierte und rückwirkend auf den 1. Februar in Kraft setzte – völlig rechtens, aber unangenehm für die Betroffenen. «Die Margen im Exportgeschäft sind sehr gering, da wir es meistens mit einem mehrstufigen Handel zu tun haben. Da kommt es ungelegen, wenn unsere Importeure auf unsere Lieferungen Zölle bezahlen müssen und dann an uns gelangen», wie Daniel Bloch, CEO des Schokoladeherstellers Camille Bloch, schildert. Viele Schweizer Firmen übernahmen die Zollbelastungen ihrer Generalimporteure. Für diese Kulanz mussten einige KMU mehrere 10?000 Franken hinblättern.
Obwohl zwischen dem 1. Februar und dem 1. August 2008 für Magermilch- und Vollmilchpulver in verarbeiteten Landwirtschaftsprodukten beim Export in die EU keine Ausfuhrbeiträge ausbezahlt wurden, geht Heinz Eng, zuständiger Sektionschef bei der Oberzolldirektion, davon aus, dass der Budgetposten von 75 Mio. Franken fürs Jahr 2008 von der Branche ausgeschöpft wird.
Statischer Preisausgleich-Mechanismus
Wegen der zunehmenden Volatilität der Rohstoffpreise werde es immer schwieriger, den Bedarf an Mitteln im Voraus präzise zu
bestimmen, wie Markus Schlagenhof, Leiter des Ressorts internationaler Warenverkehr im Staatssekretariat für Wirtschaft, erklärt. Die begrenzenden Faktoren des Preisausgleich-Mechanismus sind erstens das Bundesbudget und zweitens die zweimal im Jahr festgelegten Referenzpreise. Effektiv höhere Preisdifferenzen als im Protokoll Nr. 2 festgelegt, können nicht kompensiert werden. Für die Vertreter der europäischen Kommission im gemischten Ausschuss EU–Schweiz ist zudem oft nicht nachvollziehbar, dass die Schweizer Rohstoffpreise den internationalen Preistrends nicht folgen oder gar konträr dazu verlaufen.
Dem Appetit der Lebensmittelbranche nach genügend Ausfuhrbeiträgen für das Jahr 2009 kam das Parlament im Dezember nochmals entgegen, und es blieb bei 75 Mio. Franken. Die zunehmende Exportorientierung der Lebensmittelindustrie führt dazu, dass agrarische Rohstoffe nach einem flexibleren Regime eingekauft werden müssen. So kürzte beispielsweise die Hochdorf-Gruppe die Mengen für langfristige Milchkontrakte um 30 Prozent. Kurzfristig benötigte Frischmilchmengen für Exportware bezieht das Unternehmen auf dem Spotmarkt – zu eurokompatiblen 50 Rappen pro Kilogramm.