Nebenwirkungen sind unerwünscht
«Nano» fasziniert Wissenschaft, Technik, Öffentlichkeit und Wirtschaft. Nanotechnologien gelten als Schlüsseltechnologien des 21. Jahrhunderts und versprechen nahezu unbegrenzte Möglichkeiten.
Längst nicht überall wird Nano positiv wahr- und wohlwollend aufgenommen, sondern gerade im Zusammenhang mit Nanopartikeln und den ihnen nachgesagten Eigenschaften werden auch Ängste vor möglichen Risiken und Nebenwirkungen geschürt und in Medien und Internetforen mehr oder weniger sachlich und seriös diskutiert. Diese öffentliche Diskussion zeigt deutlich, dass die Nanotechnologie zwar in vielen klassischen Industriesektoren wie der Verpackungsbranche, dem Textilsektor, der Elektronik- und Optikindustrie oder der Medizin akzeptiert wird, aber im Lebensmittelbereich auf teils starke Ablehnung in der Öffentlichkeit stösst. Dies widerspiegelt sich in der Haltung der meisten Lebensmittelindustriebetriebe, für die das Wort «Nano» tabu ist und die jegliches Engagement in der Nanotechnologieforschung weit von sich weisen. Bedeutet das, dass Nanowissenschaften und -technologie irrelevant sind für die Lebensmittelwirtschaft? Und wie passt hier die Tatsache mit ins Bild, dass in der Natur biologische Nanopartikel weit verbreitet sind, und gerade natürliche Lebensmittel wie Milch nanoskalige Teilchen wie Molkenproteine oder Kaseinmizellen (Protein-Aggregate mit einem mittleren Radius von zirka 150 nm) enthalten?
Lebensmitteltechnologie profitiert schon lange
Tatsächlich konnten Lebensmittelwissenschaft und -technologie in den letzten Jahren bereits stark von parallelen Entwicklungen in den Nano- und Materialwissenschaften profitieren. Unser Verständnis von komplexen Lebensmittelsystemen machte in ausgewählten Bereichen durch die gezielte Anwendung von Analogien zu Nanopartikeln und Polymeren und den Gebrauch von neuen Methoden grosse Fortschritte, die uns eine zerstörungsfreie und In-situ-Charakterisierung bis hinunter auf die Nanoskala ermöglichen. Ein Paradebeispiel dafür ist Milch, deren Kaseine als klassische Vertreter von Lebensmittelkolloiden detailliert untersucht wurden und werden. So zeigt es sich, dass sich Kaseinmizellen in vieler Hinsicht wie synthetische Nanopartikel verhalten und ihre Wechselwirkungen und ihre Stabilität in Lösung perfekt mit Modellen aus der Kolloidphysik beschreibbar sind. Diese quantitative Analogie zu synthetischen Partikeln erlaubt es, ganze Verarbeitungsprozesse mit anderen Augen zu betrachten und mit neuen Methoden zu studieren (siehe Abbildung rechts).
Joghurt war wegweisend
Ein typisches Beispiel dafür ist die Herstellung von Joghurt, bei der die Kaseinmizellen durch Ansäuern destabilisiert werden, aggregieren und nach einiger Zeit ein Gel bilden. Im Rahmen unserer Forschungstätigkeit in den Nano- und Materialwissenschaften konnten wir in den letzten Jahren optische Methoden weiterentwickeln, die es uns erlauben, die Bewegung von Kolloiden auch in sehr konzentrierten und trüben Suspensionen auf Längenskalen bis unterhalb eines Nanometers zu verfolgen.
Eine Anwendung dieser Techniken auf den Joghurtbildungsprozess hat es uns zum ersten Mal überhaupt ermöglicht, auch in unverdünnten Systemen vollkommen eingriffsfrei und zeitaufgelöst die Aggregationsprozesse in der Milch zu untersuchen. Dabei zeigte sich, dass auch in solch komplexen Lebensmittelsystemen auf mikroskopischer Ebene die gleichen Phänomene beobachtet werden können wie bei synthetischen Nanopartikeln, wie sie zum Beispiel für die Herstellung von Hochleistungskeramiken über Sol-Gel-Prozesse verwendet werden. Diese Protein-Nanopartikel-Analogie gilt nicht nur für Kaseine, sondern ist viel allgemeiner. So gibt es zum Beispiel deutliche Hinweise darauf, dass die Starbildung in der Augenlinse als eine der weltweit häufigsten Ursachen für Blindheit in Analogie zur Klümpchenbildung und Phasentrennung in Partikeldispersionen verstanden werden kann und dass ähnliche Phänomene auch in Erkrankungen wie Diabetes oder Alzheimer beobachtet werden.
Entwicklung neuer Lebensmittelsysteme
Es sind diese universellen Eigenschaften von natürlichen und synthetischen Nanopartikeln, die es uns in Zukunft erlauben werden, die aus den Nanowissenschaften gewonnenen Erkenntnisse auch auf Lebensmittelsysteme zu übertragen und dort für die Verbesserung und Steuerung von Herstellungsprozessen und den daraus resultierenden Eigenschaften einzusetzen. Nano in Lebensmitteln muss also nicht nur den in unserer Gesellschaft nur bedingt tolerierten Einsatz von synthetischen Nanopartikeln zum Beispiel als Stabilisatoren oder in funktionellen Lebensmitteln bedeuten. Es heisst auch, dass wir natürliche und unbedenkliche Nanopartikel wie Milchproteine zusammen mit den aus der synthetischen Nanotechnologie bekannten Bauprinzipien und Charakterisierungsmethoden gezielt für die Herstellung von neuen Lebensmittelsystemen wie Gelee oder Emulsionen mit hoher Stabilität und massgeschneiderten Eigenschaften verwenden können.
Auch wenn klar ist, dass viele der (je nach Beobachter) Schreckens- oder Hoffnungsszenarien im Bereich «Nano-Food» nur schon aufgrund der mangelnden Akzeptanz des Konsumenten kaum Wirklichkeit werden, so hat die Nanotechnologie dennoch ein unbestreitbares Anwendungspotenzial im Lebensmittelbereich. Da es sich bei Lebensmitteln um von Natur aus nanostrukturierte Materialien handelt, wird sich auch in Zukunft der Einsatz von Nanotechnologie in dieser Branche vorwiegend auf die Nutzung der daraus hervorgegangenen Analyse- und Charakterisierungsmethoden konzentrieren. Daneben reichen nanobasierende Anwendungen in der Lebensmittelindustrie von der Nanoverkapselung von Spurenelementen und Vitalstoffen zur Optimierung der Bioverfügbarkeit bis hin zu ausgeklügelten Verpackungsmaterialien, die eine verbesserte Haltbarkeit und eine erhöhte Produktesicherheit gewährleisten.
Literaturempfehlung: «Nanotechnologie im Bereich der Lebensmittel«, Zentrum für Technologiefolgen-Abschätzung, vdf Hochschulverlag AG der ETH Zürich, 2009.
*Anna Stradner arbeitet in der Gruppe Lebensmittelphysik am Adolphe Merkle Institut an der Universität Fribourg.