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«Die Firmenleitung hat Abholpflicht»

«Kaizen ist dann erfolgreich, wenn suboptimale Prozesse auch aus Sicht der Beschäftigten einen Mehrnutzen bringen», sagt Karin Martin, Inhaberin der Organisationsberatungsfirma «Frischluft»

von Alimenta Import

Alimenta: Frau Martin, Sie wollen Unternehmen begeistern, ihre Mitarbeitenden als brachliegende Goldmine für Innovationen zu nutzen. Was halten Sie von Kaizen?

Karin Martin: Kaizen an sich ist eine ganze Philosophie, die in Japan gut verankert ist, weil dort der Einzelne sich primär als Teil einer Gemeinschaft resp. Firma sieht, für die er sich komplett eainsetzt. Im Gegenzug sorgt diese für ihn bis an sein Lebensende – so das Idealmodell. Meiner Meinung nach hat die Methode in unserem Kulturraum aber auch eine Anwendungsgrenze, d.h., sie muss relativiert und den lokalen Verhält­nissen angepasst werden. Die Prozessoptimierung mit Kaizen ist dann wirksam, wenn sie nicht nur für das Unternehmen ­einen Nutzen bringt, sondern es auch für die Mitarbeitenden.

Können Sie dies an einem Beispiel erläutern?
Betrachten wir ein Unternehmen aus der Maschinenbauindustrie, das bereits nach Toyota-Prinzipien reorganisiert worden war. Jedem Beschäftigten wurde vorgeschrieben, pro Jahr zehn Verbesserungsvorschläge zu machen. Diese Anzahl Vorschläge waren auch für den Lohnanteil relevant. Statt die konstruktive Haltung «Was kann ich für uns und meine Firma noch besser tun?» zu unterstützen, wurde die Forderung als «Du musst zehn Vorschläge eingeben, oder sonst??…» verstanden. In der Folge wurde zwar die erforderte Anzahl Vorschläge eingereicht, um den Lohnanteil zu sichern. Die Vorschläge selber waren häufig irrelevant und verursachten dennoch einen sehr hohen Aufwand im Beurteilungs­prozess. Die Firma entschied sich dann, die Forderung aufzuheben.

Ein Unternehmen der Migros-Industrie teilt mit, dass es das enorme Potenzial der Mitarbeitenden erkannt und ein Ideenmanagement eingeführt haben.
Beim softwareunterstützten Ideenmanagement – an sich ein gutes Werkzeug – besteht ein gewisses Risiko, dass das Prinzip Hoffnung zum Zug kommt. Man hofft darauf, dass Mitarbeiter Idee haben; hofft, dass die­se gut sind, hofft, dass sie einen wirtschaftlichen Nutzen bringen. Häufig verlangt man von ihnen für die Erfassung der Eingabe bereits ein sehr strukturiertes Vorgehen mit Beschrieb vom Ist- und Soll-­Zustand usw. Die Realität ist anders: Mit­arbeitende können zwar erklären, wo das Problem liegt, aber nicht aufschreiben. Sie können das Problem nennen, aber haben keine Lösung. Und sehr häufig geht dabei vergessen, dass gerade in der Industrie sehr viele Beschäftigte nicht die Muttersprache des Unternehmens sprechen. Workshops, wo gemeinsames Reflektieren und vernetzte Lösungssuche möglich sind, führen trotz höherem Zeitaufwand zu nachhaltigeren Lösungen. Grundsätzlich haben nicht die Mitarbeitenden eine Bringschuld, sondern das Unternehmen hat für Verbesserung­sideen eine Abholpflicht bei den Mitarbeitenden.