12.01.2024
Wenn der Barcode verschwindet
In den USA sorgt das «digitale Wasserzeichen» der Firma Digimarc für Furore. Der klassische Barcode oder andere zweidimensionale Code-Symbole sind auf der Produktverpackung unsichtbar aufgebracht.
Fürs Auge unsichtbar und doch vorhanden? Der schwarz-weisse Barcode, heute milliardenfach auf Produktverpackungen angebracht, könnte dank eines speziellen Wasserzeichens eines Tages verschwinden. An der in New York stattfindenden «Retail’s Big Show» im Januar 2014 der US-Dachorganisation des Detailhandels (NRF) wurden die Vorteile des Digimarc, eines neuen Codierungs- und Decodierungsverfahrens, der Branche angepriesen und vorgeführt. Bemerkenswert ist dessen enorme Gestaltungsfreiheit. Als spezielles Wasserzeichen können damit ein- wie zweidimensionale (GS1)-Symbologien verschlüsselt und an Kassenscannern oder via Smartphone-Apps gelesen werden. Die Begeisterung sprang offenbar über, so dass grosse US-Händler Ressourcen bereit stellen, um in die Technologie einzusteigen. Gemäss einem Bericht im Juli 2015 der deutschen Lebensmittelzeitung will Walmart, der grösste Detailhändler der Welt, die Funktionalität des Digimarc umfassend testen. Walmart-CEO Doug McMillon soll dieser Technik das Potenzial zuschreiben, «die Kassenabwicklung grundlegend zu verändern». Nicht nur der Branchenriese, sondern auch das vergleichsweise kleine Retailunternehmen Wegmans Food Markets, das in einigen Nordost-Staaten der USA aktiv ist, springt auf den Zug auf. Wegmans bedruckt bereits seine Eigenmarken mit Digimarc und führt eine neue Generation von Imaging-Scannern in seinen Filialen ein. Eine solche Investition ist unverzichtbar, damit die digitale Wassermarke überhaupt an der Kasse lesbar ist. Erik Bank, der Verantwortliche für die Geschäftsentwicklung in Europa von Digimarc, wertet diese Entscheidung als besonders bedeutungsvollen Schritt: «Wegmans war der erste Detailhändler in den USA, der seinerzeit den UPC-Code breit einführte.» Ein weiterer regional verankerter Versorger im pazifischen Nordwesten der USA, New Seasons Market, kündigt ebenfalls an, Digimarc anzuwenden. Der fulminante Anfangserfolg in den USA verlangt nach Erklärungen: Welche Eigenschaften der neuen Technologie sind für den Detailhandel so vielversprechend? Immerhin sind Anpassungen bei den Druckverfahren auf Produktpackungen aber auch Investitionen für die Decodierung der Ware an der Kasse unumgänglich. Erik Bank, der für Digimarc den europäischen Markt bearbeitet, sieht sowohl für die drei Hauptakteure am Konsumgütermarkt entscheidende Vorteile, nämlich für Detailhandel, Markenartikel-Hersteller und Konsumenten.
Scan-Geschwindigkeit als Argument
Erik Bank verweist auf die schnellere Scan-Geschwindigkeit bei Artikeln, die mit dem Digimarc-Barcode versehen sind. Diese ist quasi die Leitwährung (Items per Minute = IPM) für die Produktivität an der Kasse. Der Branchen-Durchschnittswert liegt typischerweise bei 24 IPM. «Unsere Tests haben gezeigt, dass professionelle Kassierer Verpackungen, die mit Digimarc-Codes versehen sind, bei einer Geschwindigkeit von 36 Artikeln pro Minute scannen.» Diese Zahl gilt, wenn alle Artikel ausnahmslos mit Digimarc versehen sind. Ausserdem biete die Technik ein gesundheitlicher Vorteil. Mitarbeitende an der Kasse müssten bislang speziell dimensionierte Artikel auf umständliche Weise in eine Position drehen, bis der Barcode über den Scanner gelesen werden kann. Auch schwerere Güter müssten heute zuerst hochgehalten werden, um sie dann mit einem Hand-Scanner «abzuschiessen». Häufig kommt es dabei auch vor, dass der Kassier oder die Kassierin sich über das Warenband hinaus nach vorne beugen muss. Alles nicht mehr nötig mit dem unsichtbaren Barcode: Sperrige Ware kann auf Distanz gescannt werden. Für Markeneigner öffnet sich mit der Technologie ein neuer Marketingkanal, denn nach wie vor ist die attraktive Produktverpackung der hervorspringende Punkt in der Kommunikation zwischen Markeninhaber und Käufern. Konsumenten brauchen nur ihr Smartphone an die Verkaufspackung zu halten und entschlüsseln so via Digimarc – dank entsprechender Scan-App – reichhaltige Zusatzinformationen zu einem Produkt. Auch zuhause könnte ein im Digimarc-Verfahren in die Packung integrierter Code (zB. QR-Code) den Konsumenten zusätzlichen Nutzen stiften. Im Falle einer Lebensmittelverpackung könnten sich Konsumenten «inspirierende Ideen für die Zubereitung einer Mahlzeit» zugänglich machen.Europäischer Detailhandel wartet ab
Ungeachtet der guten Resonanz im US-Detailhandel überwiegt Skepsis und Abwarten bei den europäischen Grossverteilern oder man gibt sich zugeknöpft. Die Rewe-Group in Köln teilt mit, dass das neue Kennzeichnungsverfahren «derzeit noch keine Bedeutung habe». Coop macht geltend, dass jede neue Technik von den Kunden kulturell angeeignet werden müsste. Selektions- und Zahlungsvorgänge mit einer unsichtbaren Artikel-Codierung setzt Vertrauensbildung voraus, so Coop-Mediensprecher Urs Meier: «Es müsste sichergestellt werden, dass der Kunde überhaupt erkennen kann, dass ein solcher Barcode vorhanden ist.» Trivial ist dieser Einwand nicht. Denn immer mehr Supermärkte offerieren ihren Kunden die Möglichkeit, ihre Einkäufe vorgängig mit Handscannern oder Smartphones vor dem Bezahlungsvorgang (z.B. Passabene-Self-Scanning) oder unmittelbar während des Self-Checkout-Inkassos zu scannen. Das Hantieren mit Barcodes, welche als Wasserzeichen-Prägung in eine Verpackung integriert wären, bedarf wohl der Übung und der Instruktion. Dazu Urs Meier: «Es müsste sichergestellt werden, dass ein Artikel an der Kasse trotzdem nur einmal gescannt wird. Ausserdem sollte der klassische GTIN dennoch leserlich auf der Verpackung angedruckt werden – als Backup-Lösung – falls der Scanning-Vorgang via Digimarc nicht funktionieren sollte.» Weder Coop noch Migros hegen die Absicht, in nächster Zeit die Funktionstüchtigkeit dieser neuen Barcode-Kennzeichnungs- und Erfassungstechnik im Testbetrieb zu erproben. Dazu fehle, so die Migros, «ein klar definierter Anwendungsfall». Die neue Technik erfordere zwingend Investitionen in Kassensysteme. Diese würden nicht getätigt, «ohne klar ersichtlichen Kunden- oder Prozessnutzen». Künftige externe Faktoren könnten die Bereitschaft zum Experiment beeinflussen. «Bei neuen gesetzlichen Regelungen, welche zusätzliche Identifikationsmerkmale auf der Verbrauchsverpackung bedingen, wäre der Einsatz einer neuen Methode prüfenswert», so Migros-Sprecherin Monika Weibel. redaktion@alimentaonline.ch