Risiken, Rückrufe und Reputation

Der Lebensmitteltag 2017 drehte sich um das Risiko in allen Varianten. Etwa bei Zertifizierungen - diese öffnen den Lebensmittelherstellern die Türen in interessante Absatzkanäle, erhöhen aber auch den Aufwand.

Zertifizierungen und gesetzliche Anforderungen an die Lebensmittelqualität sind für die Lebensmittelhersteller ein wichtiges Thema, das ständig in Bewegung ist. Das zeigte einmal mehr der Lebensmitteltag vom 30. März in Luzern mit dem Thema «Risiko», organisiert von der Schweizerischen Vereinigung für Qualitäts- und Management-Systeme SQS und Bio Inspecta - der Anlass war mit 180 Teilnehmern komplett ausgebucht. «Standards und Gesetzgeber ändern die Regeln, schnell und teilweise fundamental», sagte René Eisenring, Leiter des SQS-Lebensmittelteams einleitend. Damit würden die Hersteller teilweise neu haftbar für Risiken, die sie früher nicht hätten berücksichtigen müssen. Ein permanenter Revisionsdruck entstehe durch das EU-Lebensmittelrecht, das sich konstant weiterentwickle, aber auch in den USA werde die letzte Gesetzesrevision, der Food Safety Modernization Act FSMA, nun hoch­gefahren, mit Auswirkungen auf Europa und die Schweiz. Die neueste, vierte Version des Food Safety System Certification FSSC 22 000, einer Lebensmittelproduktions-Sicherheitsnorm basierend auf ISO-Normen, solle Anfang 2018 in Kraft treten und sehe beispielsweise neu unangekündigte Audits vor – ein Punkt, der in den Veranstaltungspausen zu reden gab. Eisenring sagte, angesichts der stetigen Erneuerungen von Normen, nicht nur für Lebensmittelsicherheit, sondern auch für viele andere Themen wie Arbeitssicherheit oder Laborsicherheit, sei es für die Firmen wichtig, zu prüfen, welche Zertifikate tatsächlich unabdingbar seien: «Ein Zertifikat nicht zu haben ist zum Teil das kleinere Risiko als ein Zertifikat zu verlieren.» Denn die Anforderungen seien hoch - ungenügendes Lebensmittelfachwissen, unklare Verantwortlichkeiten, ausgelagerte Qualitätssicherungsleitung, Verletzungen von Meldepflichten bei Vorfällen oder Produkteeinführungen ohne HACCP-Systematik könnten so rasch zum Problem werden. Wissenschaft ist diskutierbar Darüber hinaus sei es für Firmen angezeigt, allgemeine lebensmittelrelevante Entwicklungen zu verfolgen, fanden Prof. Alfred Hagen Meyer und Dr. Uta Verbeek von der Münchener Anwaltskanzlei Meyer. Stellungnahmen von Behörden wie der European Food Safety Agency EFSA, dem deutschen Bundesinstitut für Risikobewertung BfR oder auch von deren Pendants in Frankreich, England oder bei der Weltgesundheitsorganisation WHO könnten für die Hersteller relevant werden. Bei Vorfällen kann es sich laut Meyer und Verbeek lohnen, genauere Abklärungen zu treffen. Bei Fäulnis, Verderb und Kontamination brauche es eine Gefährlichkeitsprüfung. Für Rückstände ist die akute Referenzdosis ARfD massgebend, diejenige Substanzmenge, die innerhalb von 24 Stunden mit der Nahrung ohne merkliches Gesundheitsrisiko aufgenommen werden kann. Bei einer einmaligen Überschreitung der ARfD brauche es keinen Rückruf, sagte Verbeek, wenn man anhaltend nahe an den Wert komme, gelte es die Behörde zu informieren und einen Rückruf zu machen. «Wissenschaft ist diskutierbar», sagte Meyer. Dies zeige sich, wenn etwa EFSA und BfR bei Blausäure in Aprikosenkerne unterschiedliche ARfD festlegten. Dahinter stünden unterschiedliche Sicherheitsmargen. Die ARfD könnten auch mit neuen wissenschaftlichen Erkenntnissen zu den Wirkungsmechanismen der Substanzen im menschlichen Körper ändern. So habe das BfR den ARfD für Formetanat in Erdbeeren gesenkt, weil die Substanz schnell wieder aus dem Blut herausgeht und die Sicherheitsmarge so reduziert werden konnte. Mehr Verantwortung für die Hersteller Michael Beer, Vizedirektor im Bundesamt für Lebensmittelsicherheit und Veterinärwese BLV, absolvierte einen weiteren von vielen Auftritten, um das neue Lebensmittelrecht bekannt und beliebt zu machen. Seine Message: Die Unternehmen haben mit der Aufgabe des Vorsorgeprinzip - neu ist alles erlaubt, was nicht verboten ist - mehr Verantwortung und mehr Spielraum darin, wie sie gesetzliche Vorgaben erfüllen. Für viele problematische Stoffe gibt es in den Anhängen der Verordnungen Höchstwerte, aber nicht für alle. Hier sei die Risikoanalyse und das Festlegen von Höchstwerten Sache der Hersteller, sagte Beer. Bei der Überschreitung von Höchstwerten und der Feststellung, dass eine Gesundheitsgefährdung bestehen könnte, muss das kantonale Labor informiert werden, die Produkte müssen vom Markt genommen werden, oder zurückgerufen, wenn sie die Konsumenten schon erreicht haben. Das BLV werde in den nächsten Tagen noch eine Interpretationshilfe von Höchstwertüberschreitungen veröffentlichen, sagte Beer. Entscheidend: Die Eingangskontrolle Daniel Fischer vom weltweit tätigen Schadenprüfer Crawford and Company zeigte konkrete und eindrückliche Beispiele von Schadensfällen aus der Lebensmittelindustrie. Darunter eine Kugelmühle mit Aussenwand aus dem falschen, zu weichen Metall, mit dem Ergbenis, dass Abrieb im Produkt landete. Oder unsachgemäss im Betrieb neu aufgummierte Rollen, die ebenfalls zur Vernichtung einer Produktion von ganzen drei Tagen führten. Weitere Beispiele waren Nüsse mit Aflatoxinbefall, Knoblauch, der nicht belüftet wurde, Produktgläser mit Schimmelbefall, beschädigte Couverture-Tanks oder gefälschte Zertifikate, die über vier Firmen ohne Kontrolle weitergereicht wurden. Besondere Aufmerksamkeit braucht es laut Fischer, wenn neue Anlagen installiert werden, wenn neue Rezepturen in Produktion gehen, nach Revisionen oder wenn fremde Personen im Betrieb waren. Was er aber festgestellt habe: Sehr viele Schäden gingen auf mangelnde Eingangskontrollen zurück. Es sei «fast sträflich, wie die meisten Betriebe die Eingangskontrolle vernachlässigen», sagte Fischer. In der Diskussion zeigte sich ein Knackpunkt: Wann soll die Behörde informiert werden? Der Reputationsschaden durch einen öffentlichen Rückruf könne gross sein und drei bis vier Jahresgewinne beeinträchtigen, sagte Fischer. Deshalb solle man «zuerst denken, und dann telefonieren». BLV-Vizedirektor Beer meinte lakonisch, Denken sei eine gute Sache, meist gehe das aber recht lange. Die Meldungen kämen meist am Freitagnachmittag, obwohl der Vorfall bereits seit Montag bekannt sei. «Wenn man sofort handelt, passiert meistens nichts. Wenn Personen ernsthaft krank werden, weil man zu lange nachgedacht hat, ist es tragisch für die Betroffenen und für die Firma selber.» roland.wyss@rubmedia.ch

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