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Für manchen Tanker ist es zu spät

Prof. Tilo Hühn ist überzeugt davon, dass die multinationalen Konzerne mit ihren Marken an Bedeutung verlieren werden. Dafür wird die Start-up-Kultur ­wachsen, weil sich die Menschen immer häufiger mit ihrer Nahrung befassen.

Tilo Hühn. (Bild: zvg)

alimenta: Kunden geben beim Einkauf immer mehr Daten preis. Was bedeutet die Datenflut für die Hersteller von Lebensmitteln? Tilo Hühn: Ich denke, wir kommen um die Nutzung weiterer Informationsquellen zur Optimierung der Produkte und Prozesse nicht herum. Wir müssen die Konsumenten besser verstehen, wenn wir bedarfsgerechte Produkte herstellen wollen, die gesund, genussvoll und nachhaltig sind. Da ist es wichtig, Datenquellen zu nutzen. Aber: Immer unter Wahrung der Persönlichkeitsrechte. Dass dies in jeder Anwendung sichergestellt werden kann, wird heute von Konsumentenseite vermehrt in Frage gestellt. Wer liest schon die AGBs der zahlreichen Angebote? Bei kostenfreien Applikationen wird oft der Nutzer zur Informationsquelle und damit zum eigentlichen Produkt. Auch Social Media-Plattformen bieten ein grosses Daten-Reservoir. Sollen diese auch genutzt werden? Die Lebensmittelhersteller nutzen diese schon. Es gibt ganz verschiedene Angebote in Form von Apps, die die Hersteller, insbesondere aber die Händler den Kunden anbieten, um Orientierung über die Produkte und das Angebot zu bieten. Gleichzeitig werden andere Daten erfasst. Wenn ich mich zum Beispiel als Konsument über ein Facebook-Profil einlogge, stimme ich auch der Nutzung der Daten zu. Es kommt damit heute schon zur zielgerichteten Auswertung der Daten der Plattformen. Sie sagen, mit 20 Likes kann die Haltung eines Menschen gesehen werden. Wie können diese Daten mit Sensorik verbunden werden? Wu Youyou vom Department of Psychology, University of Cambridge und Michal Kosinski vom Department of Computer Science, Stanford University* haben bereits 2015 gezeigt, dass in Verbindung mit psychometrischen Verfahren und der Auswertung von Facebook-Likes eine entsprechende Persönlichkeits-Einschätzung und eine Vorhersage des Verhaltens in bestimmten Situationen mit einer hohen Wahrscheinlichkeit möglich ist.

«Mit der steigenden Anzahl «Likes» kann das Verhalten treffsicherer vorausgesagt werden»
Es wird dargestellt, dass mit steigender Anzahl der «Likes» das Verhalten eines Berufskollegen oder sogar eines Partners mittels «Cognitive Computing» treffsicherer vorhergesagt werden kann als von einem Menschen. Die Informationspfade, die wir im «Internet of everything» anlegen, ob Suchmaschine, Onlineshop, Video-, Bild- oder Kommunikationskanal, können genutzt werden, um unser Verhalten zu typisieren. Das, was wir uns anschauen, wie lange, in welcher Weise - etwa die Scrollgeschwindigkeit – und wie oft dies passiert, ob wir es teilen oder sogar bestellen, liefert unsere Haltung – im Gegensatz zu einer Befragung, die in Folge einer Sekundär­rationalisierung immer von unserem Bewusstsein gefiltert ist. Dadurch wird der Aufbau von «Avataren» erst möglich, die einerseits passende Empfehlungen für uns generieren können, andererseits unter Umständen die Grenze zur Manipulation überschreiten, indem zu einem potenziellen Bedarf intensive Werbung über verschiedenste Kanäle zielgerichtet verabreicht wird. Inwieweit betrifft dies nun die Marktforschung für Lebensmittel? Persönlichkeitsprofile, die aus den Social Media-Plattformen stammen, können ge­­nutzt werden. Dieses Beispiel existiert schon länger im Online-Buchhandel. Wenn ein Konsument dieses Buch bestellt hat, könnte er auch Interesse an ähnlichen Angeboten haben. Aus den Persönlichkeitsprofilen der Social-Media-User können Präferenzen für bestimmte Lebensmittel prognostiziert werden. Denken Sie an das hochgeladene Bildmaterial, welches in Konsumsituationen von Lebensmitteln förmlich inszeniert wird. Verschiedene Smartphones sind bereits mit speziellen Einstellungsoptionen zur Fotographie von Lebensmitteln ausgestattet. Diese Nutzer wollen nicht länger von anderen erfundene Geschichten im Sinne des «story tellings» erzählt bekommen, sondern ihre eigene Geschichte erleben und teilen – «story sharing». Dies erklärt aus meiner Sicht zum Teil auch den Verlust der Bedeutung von traditionel­-len Lebensmittelmarken. Was hier noch fehlt, ist die Kombination mit bestimmten Ge­- schmacks- und Geruchsprofilen. Hier könnten Start-ups wie FlavorWiki (siehe Kasten) eine Brücke zum Trendmonitoring schlagen. Mit dem Einsatz von «Machine Learning» könnte es möglich werden, den Kontakt zwischen Nutzerin und Produktinformation vom Werbespot über den Suchmaschinenlauf bis hin zum Kauf des Produktes zu verfolgen. Damit werden gleichzeitig erfolgsabhängige Bezahlungsmodelle für effiziente Werbewirkung verbunden sein. Also in die Zukunft blicken? Es geht um das Potenzial zur Vorhersage der näheren Zukunft, wie sich zum Beispiel eine Person in einer bestimmten Bedarfssituation verhalten würde – der Eintrittswahrscheinlichkeit. Wenn sich auf einer der verbreiteten Onlineplattformen eine Person mit einem bestimmten Status Produkte anschaut, wird die Lieferung ausgelöst. Daten verbunden mit neuronalen Rechensystemen sagen so voraus, dass es in nächster Zeit zu einer Bestellung kommen wird. Dementsprechend werden solche Möglichkeiten benutzt, um die Logistik zu optimieren. Falls dies entgegen der Prognose nicht passiert, läuft die Ware wieder ins Lager zurück. «On possible demand» – eine hohe Lieferbereitschaft wird geschätzt. Die Bedeutung von Transparenz und damit Vertrauen braucht hier im Zusammenhang mit Lebensmitteln nicht weiter betont zu werden – sie sind Voraussetzung. Dies kann weitergedacht werden. Durch die Möglichkeiten moderner Spracherkennung kann der Bedarf nach einem Produkt oder einer Dienstleistung über entsprechend im Wohnraum aufgestellte oder mitgeführte Endgeräte erfolgen. Zu denken, dass damit nur das Licht, die Rollläden oder Musik sprachgesteuert werden kann, greift zu kurz. Im Prinzip kann dadurch ein «Cognitive Butler» bereitgestellt werden, der den Wunsch des Auftraggebers schon erkannt hat, bevor er überhaupt erst ins Bewusstsein tritt – «On prospected demand».
«Ein bisschen mehr, als bloss den Wunsch von den Augen abzulesen»
Das ist ein bisschen mehr, als den Wunsch von den Augen abzulesen, es ist mit der heute verfügbaren künstlichen Intelligenz umsetzbar. Über entsprechende Bilderkennung verfolgen neuronale Suchroutinen der Onlinehändler, was die sogenannten Millennials auf ihren Plattformen zum Thema Mode oder Lebensmittel austauschen und beobachten. Trends, wahrgenommen durch Millionen Augen, dort wo sie entstehen. Auf dieser Basis entwickeln sie neue Produkte, produzieren und verkaufen sie. Das daraus Implikationen für die etablierten Entwicklungs-, Beschaffungs- und Herstellungsstrukturen entstehen, liegt auf der Hand. Medienunternehmen bieten sogenannte Aggregations­modelle an, um Produktwerbung, die über Print, Radio, Fernsehen und Online fragmentiert wurde, durch Identifikation der Endnutzerinnen wieder zusammenzuführen. Ferner betreiben solche Anbieter zunehmend «Inkubatoren» zur Gründung von Start-ups, um in den Dienstleistungs- und Produktionsbereich vorzustossen, was zu einer neuen Art der vertikalen Integration führen kann. Das Medienunternehmen wird zum Lebensmittelproduzenten. Wie wird sich die Marktforschung für Lebensmittel entwickeln? Die Entwicklungslinie für die klassische Marktforschung zeichnet sich bereits ab. Beobachtung und Experiment werden an Bedeutung gewinnen. Interaktion und Messung sind wichtiger als Befragungen, wo Wahrnehmungsverzerrungen und Sekundärrationalisierungen einen schwer zu interpretierbaren Einfluss haben. Gleichzeitig bilden diese «Cognitive Biases» im sogenannten Neuromarketing Ansatzpunkte für die Beeinflussung der Käuferschaft. Simulation und Modellbildung vor dem Hintergrund grosser Datenmengen haben neben tiefenpsychologischen Methoden bereits ihren Platz in der Konsumforschung gefunden. Wenn ausreichend Daten für eine virtuelle Repräsentation individualisierter Nutzerinnenprofile vorhanden sind, werden klassische Zugänge der Markforschung zunehmend überflüssig. Mehr und mehr wird es darauf ankommen, Trends aufzuspüren oder intuitiv voraus zu denken – damit haben Maschinen bislang noch Schwierigkeiten.
«Mehr und mehr wird es darauf ankommen, Trends aufzuspüren oder intuitiv voraus zu denken – damit haben Maschinen bislang noch Schwierigkeiten»
Im Zusammenhang mit den neuen Medien sind in den letzten Jahren auch Kleinunternehmer im Lebensmittelbereich plötzlich am Markt aufgetaucht, die die Trends setzen. Wie kommt das? Das Thema Vertrauen und Transparenz beschäftigt uns im Lebensmittelbereich schon lange. Für «Millennials», die andere Persönlichkeitsprofile und Präferenzen in der Gestaltung ihrer Lebenswelt haben, ist dieses Thema noch viel wichtiger geworden. Durch den Wunsch, etwas zu verändern und mitzugestalten und «We do what we love» entsteht eine «Start-up-Kultur» in der neuen Generation. Diese jungen Menschen, die sich aufmachen, Lebensmittel zu erzeugen, haben oftmals ökonomische Quali­fikationen an Hochschulen erworben. Gleichzeitig fehlen Kenntnisse in der Lebensmittelverarbeitung und -sicherheit. Was sie alle teilen, ist die Kompetenz für neue Medien. Sie haben aber auch gelernt, sich das Wissen bei anderen zu holen und dieses wiederum zu teilen und zum Beispiel den Vertrieb direkt über das Netz zu organisieren. Dadurch entstehen neue Lösungen, die das Potenzial zur Disruption bestehender Geschäftsmodelle im Lebensmittel­bereich haben. Etablierte Lebensmittelmarken spüren solche Entwicklungen bereits weltweit. Start-ups sind aber auch beliebte Akqusitionsobjekte internationaler Foodkonzerne. Wie «agil» können Unternehmen sein, die in ihren «best practice» – Routinen zunehmend zu erstarren drohen? Es braucht einen Kulturwandel in den Unternehmen für den sich abzeichnenden gesellschaftlichen Wandel. Für manche Tanker ist es vielleicht zu spät. Start-ups und KMU sind hier viel eher in der Lage, eine Systeminnovation zu ermöglichen.
«Die «Start-up-Kultur» ist nicht so einfach zu antizipieren, indem man junge Unternehmen aufkauft»
Dies erzeugt immer eine entsprechende Reaktion bei den Kunden. Denn Kultur kann man nicht kaufen – daran müssen die Menschen in Organisationen und die Gesellschaft beteiligt werden. Partizipation ist das Stichwort. Durch die zunehmende Skepsis gegenüber anonym wirkenden multinationalen Unternehmen entsteht eine Vertrauenskrise. Darauf mit mehr derselben Marketinginstrumente zum Aufbau einer «Trust economy» zu reagieren, greift deutlich zu kurz. Aus meiner Sicht stehen wir vor mehreren Gründerinnendekaden, wo Start-ups im Bereich der Nahrungsmittelurproduktion verbunden mit der Lebensmittelherstellung und der Vertrieb über das Netz eine zunehmende Bedeutung haben werden. Der Markteinfluss wird mehr als romantisch sein. Schauen sie bitte auf einige Akquisitionen der letzten Monate. Es entstehen zunehmend Wertschöpfungs­netzwerke als Systeminnovationen in einem sich transformierenden Agro-Food-Sektor. Nachhaltigkeit und Transparenz sind nicht mehr nur Schlagworte in Unternehmensbroschüren, sie sind in der Kultur der Unternehmen verankert oder fallen als Worthülsen auf, was zu entsprechenden Reaktionen bei den Bedarfsgruppen führt. In diesem Kontext sind wir als Hochschule ebenfalls gefordert. Wir sind dabei, unsere Angebote an der ZHAW diesen Entwicklungen zielgerichtet durch Talentförderung im Bereich Intra- und Entrepreneurship anzupassen. *Wu Youyou vom Department of Psychology, University of Cambridge und Michal Kosinski vom Department of Computer Science, Stanford University. Youyou, W.; Michal Kosinski, M.; Stillwella, D. (2015) Computer-based personality judgments are more accurate than those made by humans, pnas, 112, 1036–1040 Interview: Hans Peter Schneider hanspeter.schneider@rubmedia.ch

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