Ein halbes Jahr nach dem Austritt von Grossbritannien aus der EU und der EU-Zollunion wird sowohl in Deutschland als auch in Grossbritannien eine ernüchternde Bilanz gezogen.
Nach Lieferproblem nach dem Neujahr wegen neuer Vorschriften und Zölle liessen auch die weiteren Monate keinen positiven Trend erkennen, sagte York-Alexander von Massenbach von der Britischen Handelskammer in Deutschland (BCCG) der Deutschen Presse-Agentur. Im Gegenteil: «Ich hätte hier mit mehr Pragmatismus gerechnet, jedoch erscheinen beide Seiten wenig kompromissbereit.»
Die britische Regierung spricht jeweils von Kinderkrankheiten, die verschwinden würden. Nach sechs Monaten ist aus Sicht der Deutsch-Britischen Handelskammer aber absehbar, dass es dauerhafte Probleme geben wird. Wegen neuer Zollanforderungen seien Aufwand und Kosten höher, wird deren Chef Ulrich Hoppe von der DPA zitiert. «Wann Lieferketten wieder genauso reibungslos wie vor dem 31. Dezember 2020 operieren werden, ist unklar. Deswegen haben viele Unternehmen unter anderem in längerfristige Lagerkapazitäten investiert», sagte Hoppe. Das treibt die Kosten - und dämpft das Wirtschaftswachstum im ersten Quartal um ein Prozentpunkt, wie die Beratungsgesellschaft KPMG schätzt.
von Massenbach sagt, die Unternehmen hätten sich praktisch über Nacht mit einer Flut von neuen Vorschriften konfrontiert gesehen. Vor allem für KMU könnte es schwierig sein, sich auf dem Markt zu behaupten, weil viele nicht über das Personal verfügten, um die Bürokratie zu bewältigen.
Die Folgen des EU-Austritts seien schädlich für die Wirtschaft, kommentierte auch die britische Zeitung «Independent». «Bereits jetzt haben sie zu einem Trauma in Teilen der Landwirtschaft und der Fischerei geführt und einen Verlust an Investitionen in der verarbeitenden Industrie und in der Wirtschaft insgesamt bewirkt.» Um 2,5 Prozent werde das britische Bruttoinlandsprodukt wegen langfristiger Brexit-Folgen niedriger sein, schätzt KPMG-Experte Stelmach.
Die britischen Lebensmittelexporte in die EU brachen um fast die Hälfte (47 Prozent) auf rund 1,7 Milliarden Pfund (2 Mrd. Euro) ein. Der Branchenverband Food and Drink Federation sprach von einem «Desaster» und warnte, dies sei ein klares Anzeichen, was die Zukunft bringe.
Ein Problem, das sich erst noch entwickeln wird, sind die neuen Hürden für Arbeits- und Aufenthaltsrecht sowie für Dienstleistungen. «Manchen Unternehmen wird es schwerer fallen, geeignete Arbeitskräfte zu finden - erste Stimmen äussern sich hier schon deutlich», warnte AHK-Chef Hoppe. Betroffen ist etwa das Gastgewerbe, das wegen der Corona-Krise etliche EU-Kräfte verlor, von denen wohl nach der Pandemie nur ein Teil zurückkehren wird. Die heimischen Angestellten können das Defizit nicht aufwiegen. Auch in der Landwirtschaft und in der Pflege fehlen Fachkräfte aus der EU.