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Laborfleisch – Ei des Kolumbus oder bloss ein Hype?

Wie gut kommt die Forschung beim Laborfleisch voran? Darüber, wie rasch kultiviertes Fleisch in die Läden kommen kann, gibt es sehr unterschiedliche Meinungen.

Im extrem boomenden Feld der alternativen Proteine nimmt das Laborfleisch oder kultivierte Fleisch eine Sonderstellung ein. Denn hier wird Fleisch nicht mit pflanzlichen Proteinen nachgeahmt, sondern es wird im Labor nachgezüchtet. Das Versprechen lautet: Ihr könnt irgendwann echtes Fleisch essen, für das kein Tier gelitten hat und das viel weniger negative Auswirkungen auf Umwelt und Klima hat. Weltweit befassen sich Dutzende von Firmen mit der Entwicklung von Laborfleisch, es wurden schon Hunderte von Millionen Dollar investiert.
Die Laborfleisch-Forschung ist eine Geheimniskrämerei, in die Medien dringen bis jetzt vor allem Berichte über erste Testprodukte mit astronomischen Preisen, über millionenschwer Finanzierungsrunden und viel Euphorie. In den USA mehren sich aber Stimmen, die zweifeln, ob die Methoden, die im Labor funktionieren, überhaupt skalierbar sind. Das heisst, ob sie im grossen Massstab auch funktionieren und vor allem rentieren. Damit Laborfleisch mit traditionellem Fleisch mithalten kann, muss es in grossen Mengen produziert werden können und preislich in dessen Nähe rücken.
Der amerikanische Fachjournalist Joe Fassler schrieb im Onlineportal «The Counter» Anfang Oktober einen sehr langen Artikel, der in der Fachwelt hohe Wellen schlug. Seine These aufgrund umfangreicher Recherchen: Fleischzellen in Bioreaktoren wachsen zu lassen, stösst an biologische Grenzen und an Probleme der Fermentation, welche von der Laborfleisch-Branche nicht verstanden, nicht anerkannt oder totgeschwiegen werden. Es sind Probleme, welche die Pharmabranche schon lange kennt und bisher nicht lösen konnte. Weshalb also sollte bei der Skalierung von simpler Lebensmittelproduktion gelingen, was milliardenteure Medikamentenforschung trotz jahrzehntelangen Bemühungen nicht geschafft hat?
Knackpunkt: die Kosten
Die Promotoren von Laborfleisch, neben den Herstellern und Investoren sind es Think Tanks wie RethinkX oder das US-amerikanische Good Food Institute (GFI), gehen davon aus, dass die Produktionskosten von Laborfleisch in den nächsten Jahren und Jahrzehnten deutlich sinken können – weil grössere Bioreaktoren grössere Mengen von Laborfleisch produzieren können, womit die Kosten pro Kilogramm Laborfleisch sinken, dank der Skaleneffekte.
Das Good Food Institute veröffentlichte im März 2021 einen Bericht, in dem die künftigen Kosten pro Kilogramm Laborfleisch geschätzt werden. Die Prognose: Der Preis könnte von heute 22000 US-Dollar pro Kilogramm innerhalb von neun Jahren auf etwa 5.60 US-Dollar sinken.
Der Bericht des GFI geht von einer Anlage aus, die jährlich lediglich 10000 Tonnen Laborfleisch produziert. Die Investitionen für eine solche Anlage schätzt das GFI auf 450 Millionen Dollar, nicht viel weniger als die Neubaukosten für einen normalen Schlachthof. Um diese Investition innerhalb von vier Jahren hereinzuholen, müsste pro Kilogramm Fleisch ein Aufschlag von 11.25 Dollar erhoben werden. Falls die Frist massiv gestreckt würde, nämlich auf 30 Jahre, wären es noch 1.50 Dollar pro Kilogramm. Fairerweise muss man sagen: Auch die traditionelle Fleischwirtschaft wird heute weltweit staatlich gestützt.
Die Produktion: Kompliziert und aufwendig
Der Prozess selber, wie ihn das GDI beschreibt, beginnt mit ein paar tierischen Zellen, die zusammen mit einer Nährflüssigkeit in eine 2,5 -Deziliter-Flasche gegeben werden. Die Nährlösung enthält reines Wasser, Salze, Glukose, Aminosäuren sowie verschiedene Proteine und Botenstoffe, also Hormone, die das Zellwachstum und den Zellstoffwechsel regulieren. Die Nährlösung übernimmt so eigentlich die Funktion von Blut im Körper eines Tiers. Die Zellen beginnen, sich zu teilen und nach zehn Tagen ist der erste Wechsel fällig, von der 2,5-dl-Flasche in einen 50-Liter-Bioreaktor. Wiederum zehn Tage später kommt die Zellmasse in einen 12500-Liter-Bioreaktor mit Rührwerk. Diese Wechsel verkomplizieren den Prozess, weil alles steril ablaufen muss, aber sie sind unvermeidlich: Man kann die Zellen nicht von Anfang an in einen grossen Reaktor geben, sie würden nicht richtig wachsen. Auch das Verhältnis zwischen Nährlösung und Zellmasse muss immer stimmen, es wird kontinuierlich Flüssigkeit in den Reaktor gepumpt, während die Zellen wachsen. Daraus werden drei Mal Zellhaufen geerntet, die zuletzt in vier kleineren, spezialisierten Reaktoren zu Laborfleisch «ausgereift» werden. So entstehen schliesslich vier Mal 700 Kilogramm Laborfleisch. Mit anderen Worten: Der Prozess ist komplex, anfällig, energieintensiv und teuer.
Investoren anlocken
Bei der Vorstellung des GFI-Berichtes im März 2021 meldeten sich gemäss Fassler Branchenexperten, die verblüfft und geradeaus fragten: «Was wisst ihr, was wir nicht wissen?» Die Annahme, dass Laborfleisch in den nächsten Jahren auch nur annähernd kompetitiv werde, widerspreche sämtlichen gängigen Erkenntnissen der Wissenschaft. Die Antwort der GFI-Vertreter war merkwürdig schwammig, das wichtigste Argument war eine Art Schwanzbeisser: Allein die Tatsache, dass grosse Investoren sich massiv engagieren würden, zeige, dass die Technologie Hand und Fuss habe.
Die US-amerikanische Förderstiftung Open Philanthropy, einer der grössten Unterstützer des Good Food Institutes, hat bereits 2018 bei David Humbird, einem erfahrenen Prozess-Ingenieur, einen Bericht in Auftrag gegeben, der Ende 2020 publiziert wurde. Sein Fazit: Es gibt sehr viele Hürden, welche eine Rentabilität im Rahmen einiger Jahre verunmöglichen. Ein Durchbruch sei, wenn überhaupt, erst in ein paar Jahrzehnten zu erwarten.
Lauter Probleme
Das erste Problem: Im Bioreaktor ersetzt die Nährlösung das Blut, ein Immunsystem aber existiert nicht. Es fragt sich also, ob die Produktionsbedingungen auf dem Hygienelevel für Lebensmittelproduktion tauglich sind oder ob sie auf dem Level für Pharmaproduktion sein müssen. Während das Good Food Institute von ersterem ausgeht, ist Humbird überzeugt, dass eine absolut sterile Produktion zwingend ist. «Tierische Zellen wachsen viel langsamer als Bakterien – wenn irgendein Bakterium in den Fermenter gelangt, dann haben wir am Schluss einfach eine Bakterienkultur», sagt er gegenüber Fassler. Er sieht einen grundsätzlichen Widerspruch: «Man kann entweder eine grosse Anlage bauen, oder eine saubere Anlage. Beides miteinander geht nicht.»
Das zweite Problem: Für die Nährlösung in den Bioreaktoren wird fötales Kälberserum verwendet, das aus dem Blut von Kuhföten gewonnen wird. Es enthält in idealer Weise die Proteine und Vitamine, welche die Zellen benötigen, um zu wachsen. Ethisch ist es aber fragwürdig, wenn Fleisch zwar ohne Tiere produziert wird, für die Nährlösung aber trotzdem auf Kälberföten zurückgegriffen wird. Diese Nährlösung ohne Kälberserum herzustellen, ist heute sehr teuer, die einzelnen Elemente kosten von 260 Dollar für ein Gramm Transferrin bis zu mehreren Millionen Dollar für ein Gramm des Steuerproteins TGF-beta. Humbird sieht keinen Grund, weshalb diese Kosten in den nächsten Jahren sinken könnten.
Das dritte Problem: Es geht nicht nur um Mikronährstoffe, sondern auch um Makronährstoffe. Was kosten zum Beispiel Aminosäuren? Das GDI geht von Kosten von 40 Cents pro Kilogramm aus. Experte Humbird dagegen rechnet mit 8 Dollar. Auch hier geht es um die Frage, in welchem Reinheitsgrad die Stoffe beschafft werden müssen. Die Beschaffung von grossen Mengen von Aminosäuren in streng kontrollierter, konsistenter Qualität wäre aus Sicht von Humbird keine Banalität und jedenfalls nicht günstig.
Das letzte Problem: Zellen nehmen nicht nur Nährstoffe auf, sie produzieren auch Ausscheidungen. Diese hemmen das Wachstum der Zellen und damit auch die Effizienz des ganzen Prozesses. Dafür gibt es gemäss Humbird zwei Lösungen, keine davon ist einfach: Mit sogenannten Perfusionsreaktoren könnten die Ausscheidungen entfernt werden, allerdings würde das die Grösse der Reaktoren und die Skaleneffekte noch einmal begrenzen. Oder man müsste Zelllinien entwickeln, die rascher wachsen und weniger ausscheiden. Das ist aber ein biologischer Widerspruch– denn langsam wachsende Zellen verstoffwechseln effizienter, produzieren also weniger Ausscheidungen als rasch wachsende.
Eine Fabrik ohne Bewilligung
Anfang November 2021, kurz nach Erscheinen von Jan Fasslers Artikel, hat Upside Foods, der grösste Hersteller von kultiviertem Fleisch, der bis vor kurzem noch Memphis Meat hiess, eine Fabrik in im kalifornischen Emeryville eröffnet. Dort sollen künftig alle denkbaren Arten von Fleisch produziert werden. Was noch fehlt, ist die die Bewilligung durch die Food and Drug Administration FDA und das Landwirtschaftsministerium USDA. Wann diese kommt, ist völlig offen, die Behörden müssen zuerst überhaupt die Kriterien für die Beurteilung der neuen Methoden etablieren, und dafür, welche Kennzeichnungsregeln auf den Produkten gelten sollen. Singapur hat ein erstes Produkt des kalifornischen Unternehmens Eat Just bereits bewilligt (s. Kasten), in den USA wird es länger dauern wird, weil bei allen Produkten ausser Seafood auch das USDA beim Aufbau der Bewertungsgrundlagen mithelfen wird.
Eric Schulze, Leiter Regulierung bei Upside Foods, erklärte gegenüber dem Portal Food Navigator, man habe bereits grosse Fortschritte gemacht bei der Reduktion der Kosten der Nährlösungen und sei konstant daran, die Prozesse effizienter zu machen. Zur Kritik von Fassler und Humbird meinte Schulze, diese gingen von Voraussetzungen aus, die man in der Pharmaproduktion kenne. Dort habe es aber nie einen so hohen Kostendruck und eine so intensive Forschung gegeben, wie jetzt bei kultiviertem Fleisch. Die öffentlich zugänglichen Daten, mit denen Humbird gearbeitet habe, seien wohl auch nicht der letzte, noch geheime, Stand der Pharmaforschung. Auch Upside Foods selbst bleibt geheimniskrämerisch. Bekannt ist nur, dass die Firma ein grosses eigenes Team für die Entwicklung von Nährlösungen hat. Auch auf die Frage von Food Navigator, ob mit hybriden Produkten, also Kombinationen von pflanzlichen und tierischen Proteinen gestartet werde, bleibt Schulz vage.
Professor Tilo Hühn, Leiter des Zentrums für Lebensmittelkomposition und -prozessdesign an der ZHAW, meint, tatsächlich könnten die hohen Kosten von tierischer Zellkultivierung fast nur kompensiert werden, indem man Hybridprodukte realisiere. Für Europa rechnet Hühn damit, dass massentaugliche Produkte aus tierischen Zellkulturen erst in über zehn Jahren und möglicherweise gar nicht realisiert werden, nicht zuletzt, weil das EU-Verfahren für Novel Food erfahrungsgemäss rund drei Jahre dauere. «Aber auch Themen wie Tierwohl und GVO erschweren das Ganze.»
Auch ein Schweizer Start-up forscht daran
In der Schweiz gibt es auch ein Start-up, das an kultiviertem Fleisch forscht, nämlich Mirai Foods in Wädenswil. Christoph Mayr, Mitgründer von Mirai Foods, kennt die Argumente von Fassler und Humbird. Er sagt, der Prozess der Kultivierung bestehe aus unterschiedlichen Phasen, von denen zwar manche unter strengen «clean room»-Bedingungen stattfinden müssten, andere seien aber unter den normalen Lebensmittel-Standards möglich. Auch die Reinheit der Bestandteile von Nährlösungen, etwa der Botenstoffe, sei nicht auf dem Niveau von Pharmaproduken nötig, die Produkte würden ja nicht injiziert, sondern gegessen. «Hier gibt es bereits Ansätze, um die essentiellen Funktionen dieser Botenstoffe beizubehalten, jedoch mit weniger komplexen und daher kostenoptimierten Verfahren herzustellen.» Mirai Foods selber beschäftigt sich gemäss Mayr vor allem mit diesen Fragen. «Ein grosser Teil unserer Forschungsaktivitäten fliesst in die Optimierung des Zellkultur-Nährmediums, was auch die Eliminierung von fötalem Kälberserum beinhaltet.»
Klar ist: Die Kultivierung von Fleisch ist eine Revolution der Lebensmittelproduktion, an der mit Hochdruck geforscht wird und bei der vieles noch sehr unklar ist. Von plötzlichen Durchbrüchen bis zu jahrelanger erfolgloser Forschung scheint alles möglich zu sein. Die Frage, wann das kultivierte Fleisch im grossen Stil in den Ladenregalen steht, können vermutlich nicht einmal die Firmen selber beantworten. Und: Die ersten Produkte werden eher hybrid sein, und sie werden eher in Asien und den USA erscheinen als in Europa.

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